Vertrauen Sie niemals Ihrem Bauchgefühl, wenn Sie Ihrem Bauchgefühl nicht vertrauen

Kürzlich durfte ich das Buch „Work Rules!“ von Lazlo Bock lesen. Das Kapitel „Vertrauen Sie niemals Ihrem Bauchgefühl!“ regte mich sofort dazu an, einen PROTEST gegen die Behauptungen des Autors einzulegen.
Er schreibt darüber, wie Google die Analyse von Kandidaten („People Analytics“) in der Rekrutierung umgestellt hat, um sich weniger auf Fehlentscheidungen (Bauchgefühl) bei Einstellungsverfahren zu verlassen. Diese würden zu sehr durch die Persönlichkeit der Interviewer beeinflusst werden. Laut ihm führt eine Bauchentscheidung dazu, dass wir „auf der Grundlage einer ausgesprochen flüchtigen Interaktion […] ein spontanes, unbewusstes Urteil“ fällen, „das stark von bestehende Vorurteilen und Überzeugungen beeinflusst ist.“ Mit Hilfe verschiedenen Studien und Verfahren wurde eine Methode mit verschiedenen Frage-Techniken in Kombination mit Einschätzungen anderer persönlicher Fähigkeiten entwickelt. „Das Ziel des Einstellungsverfahrens besteht darin vorauszusagen, wie Kandidaten sich verhalten werden, wenn sie erst einmal Teil des Teams sind“. Damit ließe sich „die künftige Leistung wesentlich besser vorhersagen“.
Es macht grundsätzlich Sinn, das zu analysieren und seine Zeit dafür aufzuwenden, herauszufinden, wie wir unser Bauchgefühl bestmöglich außen vor lassen können.
Wenn man so denkt wie Google. Dann müsste ich allerdings denken, dass Menschen recht eindimensional sind und sich an einem bestimmten Zeitpunkt der Einstellung eines Mitarbeiters ein Zeitfenster öffnet, welches mir eine zuverlässige Einschätzung des Verhaltens eben dieses Mitarbeiters in der Zukunft erlauben würde. Dazu müsste ich weiter davon ausgehen, dass ein Mensch sich nicht entwickelt, nichts erlebt, nicht von verschiedenen Ereignissen in seinem privaten und persönlichen Umfeld beeinflusst wird und auch, dass Gruppendynamik keine Wirkung auf eben diese Parameter hat.
Der Ansatz von Google ist logisch. Sie arbeiten mit Daten und daher ist ihr Zugang auch der, Menschen wie Datensätze zu analysieren und davon ausgehen, dass es wiederum andere Datensätze gibt, die diese Datensätze in verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten beeinflussen werden. Daraus ergäbe sich folglich, dass ich diese Kombinationsmöglichkeiten möglichst zuverlässig vorhersagen kann, wenn meine Analyse nur möglichst genau und vielfältig ist.
Klingt aufwändig, ist es auch. Noch dazu gibt es auch niemals einen Beweis dafür, ob man eine richtige oder falsche Entscheidung bei einem Mitarbeiter (mit Bauch oder ohne) getroffen hat. In der Praxis kann man nämlich niemals erheben, ob es mit einem anderen Kandidaten besser oder schlechter gelaufen wäre. Es gibt Mitarbeiter, die nach relativ kurzer Zeit wieder gehen oder gegangen werden – man nennt diese dann Fehleinstellungen. Solche Misfits wird es aber immer geben, egal wie ausgeklügelt mein Einstellungsprozess auch ist. Es gibt nämlich immer noch viele weitere Faktoren, die eine Einstellung und die Entwicklung des Mitarbeiters erfolgreich oder weniger erfolgreich machen: die Führungskraft, die Aufgaben, die Kollegen, das Klima, die private Entwicklung des Mitarbeiters, seine Ambitionen, Veränderungen im Unternehmen etc. Mit so vielen wesentlichen Einflussfaktoren kann es noch kaum eine Analyse-Methode geben, mit der man eine statistisch zuverlässige Entscheidungen im Vorfeld treffen kann.
Was ist meine Empfehlung? Das Bauchgefühl.
Das Bauchgefühl verkürzt das Einstellungsverfahren und reduziert seine Komplexität.
Warum aber meine Überschrift zu diesem Artikel?
Weil die meisten Rekrutierungsverantwortlichen und die Führungskräfte, mit denen Sie diese Bauchentscheidungen treffen, nicht immer gut reflektierte Menschen sind. Ist man nämlich reflektiert und kennt die Herkunft seiner eigenen Vorurteile und Überzeugungen, kann man auf sein Bauchgefühl vertrauen. Das Bauchgefühl kombiniert unbewusst die verschiedenen Einflussgrößen: glaube ich meinem Gegenüber, wie schätze ich ihn/sie ein, wie könnte er in das Team passen, wie wird er/sie mit der Führungskraft interagieren, ist er/sie lernfähig, in welche Richtung könnte man sie/ihn entwickeln etc. Dieses spontane, unbewusste Urteil ist also nur eine geniale Vereinfachung des komplexen Prozesses, sämtliche Wahrnehmungen mit unseren Vorerfahrungen zu kombinieren.
Kenne ich die Herkunft meiner Vorurteile und Überzeugungen und habe diese auf ihre Funktion und Existenzberechtigung hin überprüft, kann ich meinen Bauchentscheidungen vertrauen. Kann ich diesen Vertrauen, brauche ich keine Unmengen an objektivierten Analyseverfahren und Daten und Referenzen und Zeugnissen, um zu entscheiden, ob ein Mitarbeiter, den ich gerade kennengelernt habe, passt oder nicht. Davon bin ich überzeugt!
Dazu stelle ich allerdings drei ergänzende Bedingungen:
- Bekommt ein Kandidat vor der endgültigen Entscheidung immer mindestens 3 Möglichkeiten der Begegnung. Mindestens 2 Zusammentreffen mit dem Recruiter und der Führungskraft, um auszuschließen, dass der Kandidat einfach einen guten oder schlechten Tag hatte und damit das Bild von ihm verfälscht wurde.
- Es gibt immer mehrere Personen, deren Bauchgefühl für eine finale Entscheidung herangezogen wird – standardmäßig wäre das Recruiter und Führungskraft, Recruiter und Kollege, etc. mindestens einer von den beiden, sollte gut reflektiert sein und seinem Bauchgefühl bereits vertrauen können. Der andere kann davon profitieren, selbst reflektieren und lernen.
- Das Interview – egal ob strukturiert, standardisiert oder nicht, muss dem Interviewten die Möglichkeit geben, er selbst zu sein. D.h. er muss sich wohl genug fühlen und das Gespräch muss in einer Form geführt werden, dass er irgendwann nicht mehr versucht, seine schöne Fassade aufrecht zu erhalten, sondern er vollkommen ehrlich und spontan antwortet. Entweder erzeuge ich das durch eine bestimmte Kombination von Fragen, Empathie, die entsprechende Atmosphäre oder Dauer des Gesprächs. Erst, wenn der Kandidat kongruent antwortet und ich keinen Zweifel an der Ehrlichkeit dieser Antwort habe, kann ich ein Bauchgefühl für diese Person tatsächlich entwickeln.